Wer aufgibt hat schon verloren … oder: Was nun mit #noIPReG ?

19. Juni 2023
Wer aufgibt hat schon verloren … oder: Was nun mit #noIPReG ?

vorneweg unser eigener Beitrag vom September 2020:

https://www.als-mobil.de/wer-aufgibt-hat-schon-verloren-oder-wars-dit-nun-mit-noipreg/


Zunehmend tritt das neue Intensivpflegegesetz in Kraft. Wir haben versucht, es für uns Betroffene zu interpretieren. Bitte seht diese Zusammenfassung nicht als Rechtsberatung, wir sind keine Anwälte. Doch wir wollen euch aus unserer Sicht einen Überblick zum aktuellen Stand der außerklinischen Intensivpflege geben.

Im August 2019 wurde der erste Entwurf des Intensivpflegegesetzes veröffentlicht, damals hieß er noch RISG. Doch womit Jens Spahn, damals Gesundheitsminister (CDU), nicht rechnete, war der erbitterte Kampf der Betroffenen, ihrer Familie und Freunde, der Selbsthilfegruppe und -verbände. Der rein auf Kostenersparnis und Personaleinsparung ausgerichtete Entwurf unter Missachtung der Selbstbestimmung musste durch unsere Proteste mehrfach überarbeitet werden. Nun ist das Gesetz in Kraft getreten und heißt GKV- IPReG.

Start der Proteste mit #noRISG im BMG

Ein kleiner Überblick über die zu Grunde liegenden Sozialgesetzbücher:

SGB 5    Rechtsgrundlage für die Leistungen der Krankenkassen (zum Beispiel häusliche Krankenpflege)

SGB 9    Rechtsgrundlage für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (hier finden wir auch das persönliche Budget zum Beispiel über die Eingliederungshilfe)

SGB 11 Rechtsgrundlage für die Pflegekassen (zum Beispiel Pflegegeld)

Das GKV- IPReG spiegelt sich im SGB 5 wider. Mit diesem Gesetz wurde die bisherige häusliche Krankenpflege, §37, um einen §37 c erweitert. Viele von euch leiden unter Schluckbeschwerden, haben bereits eine Maskenbeatmung oder eine invasive Beatmung über Trachealkanüle, haben eine PEG. Fast alle haben erhebliche motorische Einschränkungen.  Viele von uns können bei gesundheitlichen Gefahrensituationen nicht mehr selbstständig reagieren. So trifft eine häusliche Krankenpflege entsprechend dem neuen §37 c zu.

Den §37 c findet ihr unter folgenden Link § 37c SGB 5 – Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)

Im §37 c ist beschrieben, wer Anspruch auf außerklinische Intensivpflege hat. Für viele von uns trifft diese häusliche Intensivpflege früher oder später zu.

Während beim RISG die außerklinische Intensivpflege im Regelfall nur noch in stationären Einrichtungen erfolgen sollte, ist nun im GKV- IPReG den berechtigten Wünschen der Betroffenen zu entsprechen. Also ist weiterhin eine Intensivpflege zu Hause und in WGs möglich. Ein großer Erfolg für unsere Selbstbestimmung.


Auf Grundlage des §37 c wurden vom GBA (Gemeinsamer Bundesausschuss) die Richtlinien der außerklinischen Intensivpflege erarbeitet. Startseite – Gemeinsamer Bundesausschuss (g-ba.de)

Hier wird genau definiert, welche Ärzte die außerklinische Intensivpflege verordnen dürfen, dass im Vorfeld der Verordnung eine Erhebung hinsichtlich einer Entwöhnung von der Beatmung zu erstellen ist etc..

Die Richtlinie (AKI- Richtlinie) findet ihr unter folgenden Link  Richtlinie über die Verordnung von außerklinischer Intensivpflege (g-ba.de)

Sie ist am 1. Januar 23 in Kraft getreten. Da jedoch die strukturellen Grundlagen fehlen, um die ärztliche Versorgung sicherzustellen, tritt die Richtlinie erst am 30. Oktober 23 in Kraft. Beschluss (g-ba.de)

Die Richtlinie beschreibt unter anderem die Qualifikation der Fachärzte, die eine Potentialerhebung hinsichtlich Entwöhnung von der Beatmung machen dürfen. Das trifft eigentlich für ALS-Patienten nicht zu, da es noch keine Heilung dieser Krankheit gibt. (Wir hoffen auf die Gentherapien.) Trotzdem müssen wir uns dieser Prozedur unterziehen. Alle 12 Monate muss die Potentialerhebung durchgeführt werden. Nach 2 Jahren kann die Potentialerhebung vor der Verordnung entfallen.

Nach der Potentialerhebung können entsprechend qualifizierte Fachärzte die Verordnung und einen Behandlungsplan erstellen.  Die Verordnung ist längstens für 6 Monate gültig. Wird bei der Potentialerhebung festgestellt, dass keine Besserung der Erkrankung zu erwarten ist, darf die Verordnung über 12 Monate ausgestellt werden.

Welche Ärzte Potentialerhebung durchführen dürfen und welche Ärzte Verordnungen erstellen können findet ihr in der Richtlinie. Hier liegt vielleicht das momentane Hauptproblem. Viele Ärzte sind nicht ausreichend informiert über das neue Gesetz. Viele Ärzte sind sowieso überlastet und können rein zeitmässig diese Aufgaben nicht übernehmen. Seit ihr also auf der Suche, welche Ärzte sich registriert haben, wendet euch an die Kassenärztlichen Vereinigungen eurer Länder.

Wollt ihr eure Neurologen, Pulmologen, Hausärzte etc. informieren, gibt es einen Flyer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). PraxisWissen_AKI.pdf (kbv.de)


Die Überprüfung der außerklinischen Intensivpflege wird durch den Medizinischen Dienst erfolgen. Diese Überprüfung findet jährlich statt und wird von den Krankenkassen veranlasst. Die Begutachtungskriterien sind noch nicht rechtskräftig formuliert, aber einen Entwurf gibt es bereits und die berechtigten Organisationen haben ihre Stellungnahmen abgegeben.

Die außerklinische Intensivpflege ist nur noch von Pflegefachkräften mit entsprechender Qualifizierung möglich. Das war bereits vor dem neuen Intensivpflegegesetz  bei Pflegediensten und stationären Einrichtungen gefordert, vielleicht nicht immer eingehalten. Der Mangel an Pflegepersonal ist ja hinreichend bekannt. Er wird sich wohl auch in den nächsten Jahren nicht ändern. Es bleibt spannend, wie dieses Problem gelöst wird.

In den Bundesrahmenempfehlungen zum GKV- IPReG wird zum Beispiel auf den Personalschlüssel für WGs als auch in stationären Einrichtungen eingegangen. Die Bundesrahmenempfehlungen treten am 1. Juli 23 in Kraft. Sie sind ein weiterer gesetzlicher Bestandteil des neuen Intensivpflegegesetzes.

Der Inhalt der Bundesrahmenempfehlungen zur außerklinischen Intensivpflege ist vor allem für die Leistungserbringer also zum Beispiel für Pflegedienste und die Betreiber von stationären Einrichtungen interessant. AKI-Rahmenempfehlung-2023-04-03.pdf (gkv-spitzenverband.de)

Die Bundesrahmenempfehlungen legen Personalschlüssel, Qualifikation der Pflegefachkräfte aber auch bauliche Gegebenheiten fest. Leider werden keine Aussagen zu den Freiflächen von WGs und stationären Einrichtungen gemacht. Wir haben auch keine Aussagen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gefunden. Da die Ansprüche an die Qualifikation der Pflegekräfte sehr hoch ist, ist weiterhin zu befürchten, dass die Betroffenen nur geringe Chancen haben, außerhalb der WGs oder stationären Einrichtungen am sozialen Leben teilzuhaben.


Für uns ALS-Patienten, die meist ohne kognitive Einschränkungen ihren Krankheitsverlauf erleben, ist deshalb die Wahl des Leistungserbringers und der Versorgungsort sorgfältig zu bedenken. Natürlich ist es sehr verlockend, dass bei einer stationären Einrichtung alle Kosten übernommen werden. Aber auch die Nähe zum sozialen Umfeld, Betreuung bei Ausflügen, Behördengängen und anderen Aktivitäten außerhalb des Versorgungsortes sollten besprochen werden.


Dem Medizinische Dienst kommt bei der außerklinischen Intensivpflege eine größere Bedeutung zu. Sie kontrollieren jährlich die Versorgung der Betroffenen. Sicher gut, damit die Betroffenen auch eine Chance haben, aus schlechten Versorgungen in andere zu wechseln. Doch manchmal sind Personalschlüssel und ein barrierefreies Bad nicht so entscheidend für die Lebensqualität.  Empathie und Fürsorge der Pflegekräfte sind manchmal sogar wichtiger. Die Begutachtungskriterien für den Medizinischen Dienst werden wohl in den kommenden Wochen bekannt gegeben. Auch hier bleibt es spannend für uns Betroffene, wie der Medizinische Dienst künftig entscheiden wird.


Wo findet ihr Informationen und Hilfe:

Sehr gute Erläuterungen findet ihr auf der Webseite GKV-IPReG ThinkTank * wir begleiten politisch, ethisch, fachlich (cody.care)

Hier findet ihr auch einen Link, um eure Probleme, die durch die Intensivpflege entstehen, zu schildern.

Weiterhin steht euch die Webseite der DIGAB zur Verfügung. Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB) e.V.. Maria – Christina Hallwachs ist eine sehr gute Beraterin für uns Betroffene. Sie führt regelmäßig Onlinemeetings durch:  AtemWEGE

Menschen mit Beatmung – Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB) e.V.

Auch auf der Seite der DGM, in den Fachzeitungen wie Beatmet leben oder Not sind viele interessante Artikel.

Uns liegt vor allem am Herzen, von euren Problemen mit Krankenkassen, Leistungserbringern und bei der Suche nach Ärzten zu erfahren. Schreibt es direkt an uns ipreg@als-mobil.de Nur wenn wir Informationen von euch bekommen, können wir zusammen mit unserem Netzwerk gegen die Unzulänglichkeiten des neuen Intensivpflegegesetzes kämpfen.


Interessante Kongresse mit Themenbezug zum IPReG sind u.a.

KAI in Essen im September

DIGAB in Hamburg im September

MAIK in München im Oktober


Last but not least – #noIPReG kostet leider auch ´ne Menge Geld, welches besonders bei Vereinen wie uns, nicht annähernd durch das eigene Budget bereitgestellt werden kann. Daher:

Vielleicht ist es euch möglich, Freunde, Therapeuten, Pflegedienste, Firmen etc. um Spenden zu bitten. So können wir für unseren Verein auch rechtliche Beratung ermöglichen. 

Wir wünschen euch viel Kraft bei der Bewältigung unserer schwerwiegenden Erkrankung und trotz

allem viele gute Stunden.

Herzlichst euer Vorstand von ALS-mobil e. V.